Dieses Manifest entstand im Rahmen des Projekts „Gemeinsam für Migrantenrechte“, das vom „Konsortium der Migranten unterstützenden Nichtregierungsorganisationen“ durchgeführt wird. 18 NGOs haben sich in diesem Konsortium verbündet (u. a. Organizace pro pomoc uprchlíkům/Organisation zur Hilfe von Flüchtlingen, Sdružení pro integraci a migraci/Vereinigung für Integration und Migration, Poradna pro integraci/Beratungsstelle für Integration, InBáze, Multikulturní centrum Praha/Multikulturelles Zentrum Prag, Člověk v tísni/Mensch in Not). Das Projekt wird gefördert durch den fond pro NNO/Fonds für Nichtregierungsorganisationen, NROS/Stiftung zur Entwicklung der Zivilgesellschaft, nadace partnerství/Stiftung Partnerschaft, sowie aus Island, Liechtenstein und Norwegen im Rahmen des EHP-Fonds (eea grants). Das Migrationsmanifest entstand mit Unterstützung des Prager Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Die mit Migration beschäftigten Organisationen schildern ihre Erfahrungen in der Praxis und ihre Positionen. In einem Appell an Politik und Verantwortungsträger fordern sie die Migrationspolitik an den Werten Freiheit und Gleichheit auszurichten und allen Menschen ein würdevolles Leben in einer gerechten Gesellschaft in der globalisierten Welt zu ermöglichen. Sie erinnern daran, dass sich die Tschechische Republik durch den Beitritt zu verschiedenen internationalen Übereinkommen zur Einhaltung dieser Prinzipien verpflichtet hat und kritisieren die dem vielfach widersprechende Praxis. Ziel ist die Anerkennung kultureller Vielfalt, eine Kultur des Respekts und der Verantwortung in einer offenen, demokratischen, Bürgergesellschaft.
Die Zahl der Migranten weltweit liegt seit Jahrzehnten stabil bei etwa 3 % der Gesamtbevölkerung. Der scheinbare Anstieg in vielen EU-Staaten hat auch statistische Gründe: so leben etwa 500.000 Slowaken seit dem Zerfall der Tschechoslowakei außerhalb ihres Landes, ohne gewandert zu sein. Freizügigkeit und Freiheit des Aufenthalts sind keine Anomalie, sondern tschechisches Verfassungsrecht.
Bürokratische Hindernisse und willkürlich gesetzte Fristen entscheiden über die Aufnahme bzw. den Verbleib. Der Staat muss klarstellen, wer aufgenommen wird, und bei Erfüllung der Bedingungen sollte ein Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung bestehen.
Es ist eine Ungleichbehandlung, wenn z. B. ein Migrant unter Alkoholeinfluss einen Unfall verursacht, niemanden verletzt, für den Schaden und die Strafe aufkommt, und zusätzlich die Aufenthaltsgenehmigung verliert. Hier sollte mehr Augenmaß herrschen.
Auch Bürger aus EU-Ländern außerhalb des Schengen-Raumes und aus Drittstaaten, die eine Aufenthaltsgenehmigung in einem Mitgliedsland besitzen, sollten von der Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch machen dürfen. Familienzusammenführung sollte einen höheren Stellenwert haben als der finanzielle Status von Migranten. Auch diesem Prinzip hat die Tschechische Republik in internationalen Abkommen zugestimmt. Eine Daueraufenthaltsgenehmigung sollte mit dem Recht auf Familienzusammenführung verknüpft sein.
Derzeit findet eine der größten Flüchtlingskrisen seit dem Zweiten Weltkrieg statt, fast 60 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die meisten sind momentan in Nachbarstaaten untergekommen. Aber es ist auch eine große Herausforderung für Europa, das viele Flüchtlinge nicht selten unter Lebensgefahr ansteuern. In der EU regelt das Dubliner Abkommen, dass ein Asylantrag im ersten erreichten EU-Staat zu stellen ist – das sind in der Regel die Länder an den Außengrenzen der EU. Die der Tschechischen Republik sich stellenden Aufgaben waren bislang sehr überschaubar. Der einzige legale Weg führt über die internationalen Flughäfen. Die Tschechische Republik verstößt gegen das Non-Refoulement-Prinzip der Genfer Flüchtlingskonvention, indem dort die Fremdenpolizei unter Hinweis auf „Rechtsumgehung“ die Einreise verweigert, auch wenn ein gültiges Visum vorgewiesen wird.
In der ČR kommen auf eine Million Einwohner 109 Anträge auf Asyl. In Polen sind es doppelt so viel, in Bulgarien 14x so viel und in Ungarn 40x so viel. Flüchtlinge – dies ist auch gemäß Dublin möglich – sollten in dem Land Aufnahme finden können, in dem ihre Integrationschancen am höchsten sind, z. B. aufgrund familiärer Beziehungen. Die Tschechische Republik verweigert das und schiebt die Verantwortung für Migration auf Staaten an den Außengrenzen der EU ab.
Viele Flüchtlinge begeben sich auf dem Weg nach Europa in Lebensgefahr, weil sie aufgrund fehlender Dokumente keine Chance haben, auf legalen Wegen die EU zu erreichen. In ihren Heimatstaaten funktionieren die zuständigen Behörden nicht, und der Zugang zu den diplomatischen Vertretungen in Nachbarstaaten ist schwierig oder unmöglich. Die Botschaften und Konsulate der Staaten der EU könnten hier durch die Erteilung humanitärer Visa für Abhilfe sorgen und dazu beitragen, von Schleppern verursachte Tragödien im Mittelmeer und anderswo zu vermeiden. Flüchtlinge – besonders Familien mit Kindern – sollten nicht kriminalisiert und in geschlossenen Lagern wie Gefangene untergebracht werden.
Antragstellern auf Asyl sollten sofort Sprachkurse angeboten, der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht und im Bedarfsfall psychotherapeutische Hilfe angeboten werden.
Das System der Flüchtlingshilfe der Tschechischen Republik erlaubt keine privaten Alternativen zu den staatlichen Angeboten, etwa Unterkünfte oder finanzielle Unterstützung. Beispiele aus Deutschland und Österreich zeigen, dass diese oft effektiver sind.
Die Tschechische Republik plädiert dafür, Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern zu unterstützen und Fluchtursachen zu beseitigen, kommt aber ihren eigenen Versprechen etwa in der Entwicklungshilfe nicht nach. Die Entscheidung vom 9. 7. 2015, in den nächsten beiden Jahren 400 Flüchtlinge aus Ländern außerhalb der EU aufzunehmen sowie zusätzlich 1.100, die bereits in der EU sind, ist angesichts von 9 Millionen, die allein in Syrien und den Nachbarstaaten in Flüchtlingslagern leben, nicht ausreichend.
Trotz einiger positiver Ansätze in den letzten beiden Jahrzehnten ist die tschechische Integrationspolitik mangelhaft. Bis auf Ausnahmen setzen Gemeinden kaum finanzielle Mittel für die Integration von Migranten ein. Die staatliche Integrationspolitik bedarf der Dezentralisierung. Und sie muss die Vorstellung überwinden, Integration sei identisch mit Anpassung an die tschechische Mehrheitskultur, für die allein der Migrant verantwortlich sei. Wir verstehen Integration als zweiseitigen, dynamischen Prozess, der ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Beiträge von Migranten zum Gemeinwesen den Weg bereitet. Die derzeit vom Innenministerium verwaltete, zentralisierte Integrationspolitik ist wenig erfolgversprechend. Es ist aussichtsreicher, durch die Einbindung von Kreisen und Gemeinden dem Subsidiaritätsprinzip Geltung zu verschaffen. Und auf Regierungsebene sollte die Zuständigkeit nicht beim Innenministerium, sondern beim Arbeits- und Sozialministerium liegen. Es geht nicht um eine sicherheitspolitische, sondern um eine soziale Herausforderung.
Angebote zur Integration richten sich nur an Migranten mit Aufenthaltsgenehmigung. Eingliederungshilfen, Rechtsberatung und Sprachkurse sollten aber jedem Migranten offenstehen.
Angestellte in der Verwaltung und in öffentlichen Institutionen benötigen im Umgang mit Migranten interkulturelle und sprachliche Kompetenz. Dolmetscherdienstleistungen sind zugänglich zu machen und interkulturelle Bildung in die professionelle Ausbildung zu integrieren.
Mit erfolgreichen Schritten zur Integration sollte der Erwerb von Bürgerrechten einhergehen. Integration ist nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein Recht. Mit steigender Aufenthaltsdauer sollte Migranten Rechtssicherheit, freier Zugang zum Arbeitsmarkt und in die Sozialversicherungssysteme sowie politische Partizipation gewährt werden. Personen, die ohne Aufenthaltsgenehmigung in der Tschechischen Republik leben, sollte der Übergang in einen legalen Status ermöglicht werden.
Ein zufriedenes Zusammenleben aller Bürger setzt eine Annäherung, aber keine Assimilierung von Migranten voraus. Migranten ist Respekt vor Verfassung und Gesetzen abzuverlangen – nicht das Bemühen, sich Tschechen in jeder Hinsicht anzugleichen.
Nach internationaler und nach tschechischer Legislative zählen zu den sozialen Rechten u. a. das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, Arbeit, faire Arbeitsbedingungen, Versammlungsfreiheit sowie soziale Sicherheit. Migranten stehen sie nicht universell zu, sondern ihrem Aufenthaltsstatus entsprechend nur selektiv. EU-Bürger sind Tschechen in dieser Hinsicht gleichgestellt. Zwischen der Formulierung von Rechten der EU-Bürger und deren Implementierung im Behördenalltag der Mitgliedsstaaten klafft indes oft noch eine Lücke. Migranten aus Drittländern mit langfristigem Aufenthalt dagegen haben zwar die gleichen Verpflichtungen, die sozialen Systeme zu mitzufinanzieren, aber nicht die gleichen Rechte, in Notsituationen daraus Unterstützung zu erhalten. Medien berichten indessen nicht selten das Gegenteil. Migranten aus Drittländern, die in Tschechien leben, arbeiten und Sozialversicherungsbeiträge leisten, müssen voll in die sozialen Systeme einbezogen werden – unabhängig von einer Daueraufenthaltsgenehmigung. Probleme gibt es häufig aufgrund fehlender bilateraler Verträge mit den Heimatländern der Migranten in der Rentenversicherung. Hier besteht Handlungsbedarf. Oft können aufgrund dramatischer Fluchtumstände auch nicht die notwendigen Nachweise vorgelegt werden. Soziale Dienstleistungen erreichen derzeit einzelne Migrantengruppen eher zufällig, weil für sie gerade Projekte gefördert werden. Keine Gruppe sollte davon ausgeschlossen sein.
Bestimmten Migrantengruppen mit langfristiger Aufenthaltserlaubnis aus Drittländern wird die Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung verweigert. Sie sind auf teure kommerzielle Alternativen angewiesen, die nicht alle Risiken abdecken. Ihnen drohen enorme Schulden, wenn sie die Kosten selbst tragen müssen.
Für Migranten ohne festen Wohnsitz muss ein Zugang zu den sozialen Systemen geschaffen werden, ferner Übernachtungsmöglichkeiten. Bei Interesse soll ihnen die Rückkehr in ihr Herkunftsland ermöglicht werden.
Trotz gesetzlich verbürgtem, gleichberechtigtem Zugang sind Schüler und Studenten mit Migrationshintergrund im Bildungssystem benachteiligt.
Es fehlt derzeit ein langfristiges Rahmenkonzept, das systematisch die Maßnahmen zur Unterstützung von Pädagogen in der Bildung von Migranten erfassen und ihnen Wirkung verleihen würde. Auf dem Gebiet der Information und Kommunikation mit den Familien der Migranten besteht Verbesserungsbedarf.
Das größte Hindernis für die Gewährung gleichberechtigter Bildungschancen für Migranten ist auf allen Ebenen fehlende Sprachkenntnis. Das Bildungsministerium muss das Angebot und die Zugänglichkeit von Sprachkursen verbessern.
Kulturelle und sprachliche Vielfalt wird von vielen Lehrern und Ausbildern nicht als Bereicherung, sondern als Lernhindernis wahrgenommen. Es müssen Mittel zur Vertiefung der kulturellen Kompetenz bereitgestellt werden. Auch in der Xenophobie- und Rassismusprävention besteht Nachholbedarf. In vertiefter Zusammenarbeit mit den Familien sind Gelegenheiten zu schaffen, Kultur und Sprache der Herkunftsländer von Migranten kennen zu lernen.
Der Zugang zu Bildung als Schlüssel zur Integration darf nicht vom Aufenthaltsstatus abhängig sein, sondern muss allen Migranten offenstehen.
Nach 1989 erfolgte Migration in die Tschechische Republik im Wesentlichen aus wirtschaftlichen Gründen. Migranten sind vor allem in der Bauwirtschaft, in der verarbeitenden Industrie und im Handel beschäftigt. Arbeitsmigranten bilden eine heterogene Gruppe. Mit niedriger Qualifikation gehen unsichere Arbeitsverhältnisse, niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und häufige Arbeitsunfälle einher.
Nachfrage besteht vor allem in Branchen, die unter hohem Konkurrenzdruck stehen und Kosten senken wollen, indem billige, anspruchslose Arbeitskräfte eingestellt werden. Der Einfluss der Politik ist in der globalisierten Wirtschaft gering, aber die Forderung nach ökonomischer Unabhängigkeit erschwert die Situation für Arbeitsmigranten.
Vom tschechischen Innenministerium propagierte Modelle zirkulärer Migration, die vorsehen, Arbeitsmigranten bei Bedarf ins Land zu holen und nach Hause zu schicken, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, behandeln Menschen wie Sachen. Angestrebt werden sollte vielmehr eine Arbeitsmigration mit dem Ziel der Integration.
Migranten aus Drittstaaten mit langfristigem Aufenthalt sind eigentlich die flexibelsten Arbeitskräfte. Durch Schutzfristen und andere Maßnahmen der Migrationspolitik wird ihre Mobilität eingeschränkt.
Statt die Einhaltung von Arbeitnehmerrechten und von Sicherheitsbestimmungen stellen Kontrollen von Arbeitsverhältnissen oft die Aufdeckung von Schwarzarbeit in den Vordergrund. Arbeitsmigranten können ihre Rechte im Streitfall nur selten durchsetzen.
Selbst auf der höchsten Stufe im Aufenthaltsrecht – der Daueraufenthaltsgenehmigung – verweigert die Tschechische Republik Migranten aus Drittländern das aktive und das passive Wahlrecht sowie das Recht, sich in politischen Parteien zu engagieren oder andere Formen der Vertretung auf lokaler und Kreisebene.
Die Möglichkeit, sich im öffentlichen Leben einzubringen ist ein Schlüsselelement zur Integration. Politische Rechte gehören zudem zu den bedeutendsten Prinzipien eines demokratischen Staates. Nur EU-Bürger mit vorübergehender oder Daueraufenthaltsgenehmigung erhalten das lokale Wahlrecht. Indem es Migranten aus Drittstaaten verweigert wird, signalisiert ihnen die Gemeinschaft, dass sie nicht als vollwertige Mitbürger akzeptiert sind. Selbst EU-Bürger mit lokalem Wahlrecht dürfen sich keiner Partei anschließen. Das ist diskriminierend. Auch die Schaffung von anderen Organen zur Selbstvertretung der Interessen von Migranten auf lokaler Ebene sieht das tschechische Recht nicht vor.
Migration lässt sich weder vollständig steuern oder abstellen, aber sie kann konstruktiv begleitet und beeinflusst werden. Sie birgt sowohl Konflikt- wie auch Bereicherungspotentiale.
In der ČR herrscht eine utilitaristische Betrachtung des Phänomens vor. Migration soll den ökonomischen Interessen des Landes nutzen. Im Übrigen besteht die Tendenz, gegen Migranten repressiv vorzugehen.
Das bestehende Einwanderungsrecht ist kompliziert und undurchschaubar.
Anstelle klar definierter Regeln zur Verwaltung der Migration errichten Behörden mit nicht ausreichenden Kapazitäten eher bürokratische Hindernisse. Einzelne Fälle werden nach formalen Kriterien entschieden, individuelle Umstände bleiben außer Betracht.
Politische Rechte werden Migranten weitgehend verweigert.
In der öffentlichen Diskussion überwiegen folgende Standpunkte:
Migranten werden als Menschen zweiter Klasse betrachtet, soziokulturelle Unterschiede überbewertet, die Universalität der Menschenrechte und die Gleichheit vor dem Gesetz übersehen.
Es herrscht ein Mangel an Sachkenntnis, wer Flüchtling, wer Wirtschaftsmigrant ist, hinsichtlich der Herkunftsländer und der Situation in anderen EU-Staaten. Nicht die tatsächliche Zahl der Antragsteller in der ČR ist Diskussionsgrundlage, sondern dämonisierte Zustände in anderen Ländern.
Die Mehrzahl der Politiker schweigt zu anwachsendem Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, einige propagieren gar selbst ungestraft solche Positionen.